Junge Historiker*innen leisten brilliante Arbeit, die Wissenschaft behandelt sie trotzdem respektlos. Es ist Zeit für Ehrlichkeit, bessere Strukturen und eine offene Debatte über vernünftige (wissenschaftliche) Familienplanung.
Von Karoline Döring und Wenzel Seibold
Der „wissenschaftliche Nachwuchs“ ist ein heikles Thema. In Diskussionsrunden, in Feuilletons und anderswo wird über ihn geklagt, gestritten und ganz vielleicht sogar mit ihm diskutiert. Tagungen verschiedenster Fachrichtungen widmen sich der Situation junger Forscher*innen. Es gibt Arbeitsgruppen und Interessengemeinschaften, die für bessere Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb eintreten. Selbst der Begriff steht mittlerweile zur Diskussion: Der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands hat zusammen mit anderen Fachverbänden um Vorschläge für eine Umbenennung des „wissenschaftlichen Nachwuchses“ gebeten, im Rahmen der Tagung „War die Zukunft früher besser? Akademische und außerakademische Berufsperspektiven in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften“ im Februar 2017 im Schader-Forum Darmstadt. Der Sieger war „BeStin“ („Befristete Stelleninhaber*innen“). Er hat sich wenig überraschend nicht allgemein durchgesetzt. Aufschlussreich war der Wettbewerb allerdings wegen seiner an Zynismus wenig sparsamen Vorschläge wie „akademisches Prekariat“, „Unterbau“ oder „wiss. Reserve-Armee“.
Der ewig junge Nachwuchs
Dieser Zynismus ist ein guter Gradmesser für die Unzufriedenheit einer Gruppe, die mit diesem Begriff etikettiert wird und an ihm verzweifelt. Wer gehört überhaupt dazu, zu diesem „Nachwuchs“? Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung endet das wissenschaftliche Erwachsenwerden mit dem Ruf auf eine Professur. Doch von diesen gibt es herzlich wenige. Die meisten Forscher*innen werden – obwohl ihnen seit Beginn ihres Studiums mehr oder weniger anderes vorgemalt wurde − nie einen Ruf erhalten. Bleiben diese Wissenschaftler*innen also wundersamer Weise „forever young“? Wo wächst der „Nachwuchs“ im heutigen Wissenschaftsbetrieb, in dem Dauerstellen äußerst rar gesät sind, hin?
Am Ende verhungert der überalterte Nachwuchs auf der Straße
Mit unserer Aktion #Wissenschaftverhüten auf dem Historiker*innentag 2018 in Münster wollen wir ein Nachdenken über „den wissenschaftlichen Nachwuchs“ provozieren. Wir verteilen dort Kondome zur Verhütung wissenschaftlichen „Nachwuchses“, denn: Die geschichtswissenschaftliche „Familie“, oder auch „Zunft“, wie sie sich selbstgewiss nennt, zeugt ohne Unterlass viel zu viele Kinder, die sie nicht versorgen kann. Am Ende setzt sie ihre überalterte Brut trotz ausgesprochen guten Betragens auf die Straße und lässt sie wissenschaftlich verhungern.
(Doktor-)Vater und (Doktor-)Mutter werden von ihren Kindern, lange bevor diese „erwachsene“ Professor*innen hätten werden können, qua Wissenschaftszeitvertragsgesetz jäh getrennt. Zurück bleibt Frustration auf beiden Seiten. An welchem Punkt setzt eine vernünftige wissenschaftliche Familienplanung ein und wie kann diese aussehen? Unserer Meinung nach sollten sich die Eltern (die Professor*innen) und die Großfamilie (die Hochschulpolitik) umsichtiger bei der Reproduktion zeigen oder, noch besser, Bedingungen schaffen, die diesem wertvollen „Nachwuchs“ echte Perspektiven geben. Wenn der „Nachwuchs“ weiterhin so behandelt wird wie derzeit, wäre Verhütung fairer gewesen. Und die Kinder (die Promovierenden, Studierenden und alle, die sich wissenschaftlich betätigen) sollten sich gründlich überlegen, ob sie Teil dieser exklusiven Familie sein möchten. Denn der Weg bis zur „Reife“ ist steinig, mitunter sogar endlos lang.
Was wir uns von den Eltern (den Professor*innen) wünschen
Professor*innen übernehmen mit der Annahme geeigneter Kandidat*innen zur Promotion große persönliche Verantwortung. Die Bezeichnungen sind nicht umsonst familiär. Auch die selbstständigsten Doktorand*innen erwarten sich von ihrer Doktormutter, ihrem Doktorvater ein Mindestmaß an fachlicher, emotionaler aber auch an finanzieller Fürsorge.
Umgang mit den doktorand_innen in einem Bild #histag18 pic.twitter.com/IiK6ZQyNkB
— Maike Axenkopf (@mai_xe) 27. September 2018
Vergebt Themen, die in zwei bis drei Jahren realistisch zu bearbeiten sind. Über sechs Jahre, fünf Stellen, vier Stipendien, drei Überbrückungen und zwei Arbeitslosigkeiten zu promovieren zermürbt und bringt der Wissenschaft weniger ein als unter anderen Umständen möglich wäre.
Kümmert Euch frühzeitig um Mittel – seien es Drittmittel oder verfügbare Stellen. Ohne finanzielle Unterstützung ist die Promotion ein Kampf mit ungewissem Ausgang. Wer alle paar Monate Anträge schreiben und um die Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts bangen muss, promoviert in dieser Zeit nicht.
Wer dauernd um seinen Lebensunterhalt bangen muss, kann nicht promovieren
Haltet Euren Schützlingen den Rücken frei. Jungforscher*innen in prekären Arbeitsverhältnissen sollten nicht Personallücken in Lehre und Lehrstuhlverwaltung schließen müssen. 50 % Gehalt bedeuten 50 % der Regelarbeitszeit! Informiert Eure Studierenden über alternative Berufswege, vermittelt ihnen Schlüsselqualifikationen und gebt ihnen Einblicke in die Arbeitswelten außerhalb der Universität. Ihr werdet Euch dafür in vielen Fällen selbst fortbilden und übliche Pfade verlassen müssen, aber verzagt nicht – diese Qualifikationen und neuen Perspektiven halten auch für Euch großen Mehrwert bereit.
Akzeptiert, dass Wissenschaft nicht nur an Hochschulen und Universitäten, sondern auch in Zivilgesellschaft, Schulen, Museen, Archiven, Vereinen und vielen anderen Orten betrieben wird. Knüpft Kontakte zu diesen Gruppen und tretet in den fachlichen Austausch – die Wissenschaft und auch Ihr selbst können davon nur profitieren.
Was wir uns von der Großfamilie (der Hochschulpolitik) wünschen
Stellt die Weichen, damit sich Strukturen grundlegend ändern und Karrierewege neben der Professur entstehen. Mit den in Überzahl vorhandenen befristet Beschäftigten ist vielleicht kurzfristig eine attraktive Spitzenforschung möglich. Langfristige Bildungsziele, gute Lehre und kontinuierliche Grundlagenforschung werden damit nicht erreicht.
Finanziert die Universitäten solide aus. Es ist fatal, die fehlende Grundfinanzierung durch eine sich überhitzende Drittmittelindustrie ausgleichen zu wollen. Die sich daraus ergebende personelle Fluktuation, unsichere Rahmenbedingungen und Unsicherheiten über Projektausgänge wirken sich negativ auf Wissenschaft und ihre Ergebnisse aus.
Was wir uns vom „Nachwuchs“ selbst wünschen
Überlegt Euch echte Alternativen und zweite Standbeine zur Wissenschaftskarriere und arbeitet kontinuierlich daran. Ein Bibliotheks- oder Archivreferendariat ist oft ebenso schwer erreichbar wie eine Professur; unbefristete Stellen im Museum sind kaum zahlreicher als im Wissenschaftsbetrieb. Ein zweites Standbein, auf dem man nicht stehen kann, ist sinnlos.
Schätzt Eure Chancen realistisch ein. Wenn die einzigen beiden unbefristeten Stellen an Eurem Wunschlehrstuhl eben erst mit relativ jungen Forscher*innen besetzt worden sind, wird Euch die „Wartezeit“ bald lang werden. Werdet Euch über Eure Lebensziele klar. Ist es wirklich die Professur?
Bildet Euch im Studium, aber bildet Euch nicht ein, dass Ihr alle später an der Uni arbeiten werdet. Selbst der der Satz „Ich mache später irgendwas mit Medien“ ist da noch realistischer. Aber: Auch außerhalb von Universitäten und Hochschulen gibt es wichtige Stellen und Berufe für Geisteswissenschaftler*innen. Informiert Euch und sprecht mit Menschen auch außerhalb der akademischen Lebenswelt.
Mischt Euch ein! Die Bedingungen des „Nachwuchses“ und somit der Wissenschaft als Ganzes können nur verbessert werden, wenn Ihr auf Eure Probleme und Lebenssituationen hinweist. Ihr müsst dafür vielleicht Mut aufbringen, aber ohne diesen Mut ändert sich nichts.
Was Ihr alle tun könnt
Wir haben keine Patentlösungen. Unser Anliegen ist es, die Debatte über den wissenschaftlichen „Nachwuchs“ und damit über den ganzen „Wissenschaftsbetrieb“ neu zu beleben. Sie darf nicht dabei stehenbleiben, ob der „Nachwuchs“ nun „Nachwuchs“ oder irgendwie sonst bezeichnet wird. Sie muss auf die Probleme und Bedürfnisse junger Wissenschaftler*innen eingehen und diese ohne falsche Scheu aufzeigen. Lösungsansätze müssen diskutiert und auch in der Praxis erprobt werden.
Beiträge zum Thema
– Exzellenz für wenige oder gute Beschäftigungsbedingungen für alle? NGAWiss zur Verkündung der Clustersieger der Exzellenzinitiative [mittelbau.net]
– Gespaltene Zunft? Welchen Stellenwert haben Promovierende für den Historiker_innenverband Offener Brief an die Mitglieder des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands [lisa.gerda-henkel-stiftung.de]
Teilt Eure Erfahrungen!
Um dazu einen Anstoß zu geben, rufen wir alle, die sich als Geisteswissenschaftler*innen, „Nachwuchs“, Überwuchs, Auswuchs oder als was auch immer empfinden zu einer Blogparade auf. Teilt Eure Erfahrungen, beschreibt Eure Situation und lasst uns gemeinsam potenzielle Lösungen zur Sprache bringen – gern auch als Kommentar zu diesem Beitrag.
Bloggt und teilt Eure Erfahrungen bis Ende des Jahres mit dem Hashtag #Wissenschaftverhüten auf Twitter, Facebook oder Instagram. Wir sammeln die Beiträge und verschaffen Euch eine größere Leser*innenschaft. Wenn Ihr keinen eigenen Blog habt, könnt Ihr uns Eure Texte auch zur Veröffentlichung zukommen lassen (redaktionelle Entscheidungen behalten wir uns vor).